Kemp ist schwer familiengeschädigt. Der ewig vernachlässigte Sohn einer egozentrischen Trinkerin und eines manisch-depressiven Möchtegern-Zauberers hat sich im Laufe seines Lebens eine gewisse Menschenverachtung angearbeitet. Jetzt wird er ans Sterbebett seiner Tante zitiert, die heimliche Hoffnungsgestalt seiner Jugend, die ihn allerdings 30 Jahre lang ignoriert hat. Kemps Erwartung, die Tante in kürzester Zeit dahinsiechen zu sehen, wird enttäuscht. Aus Tagen werden Monate, die Jahreszeiten wechseln sich ab. Je länger Kemp ausharrt, desto mehr lebt die schweigsame Bettlägerige auf. Das lange Warten lässt Kemp seine skurrile Kindheit rekapitulieren und über die Menschheit und das Dasein an sich philosophieren, bis sein Besuch eine überraschende Wendung nimmt.

Morris Panych, geboren 1952 in Calgary, ist ein Tausendsassa des kanadischen Theaters: Autor, Regisseur und Schauspieler in einer Person. Sein Werk umfasst etwa 20 Stücke und ein halbes Dutzend Adaptionen (z.B. von Gogols Revisor und Schnitzlers Anatol). Zweimal wurde er mit dem höchsten Literaturpreis Kanadas ausgezeichnet, dem Governor General Literary Award for Drama. Als Regisseur und Schauspieler arbeitet er sowohl für die Bühne als auch für Film und Fernsehen.

Panychs Interesse gilt den zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer ganzen Vielfalt. Ihn fasziniert die alltägliche Auseinandersetzung mit den kleinen, bizarren Widrigkeiten des Daseins. Indem er den Blick humorvoll und mit Sinn fürs Absurde auf derartige Kleinigkeiten richtet, schafft er auch den Zugang zu „großen“ Themen, wie Tod oder Einsamkeit.

Das Stück „Tantchen und ich“ ist 1995 aus einer Krankenhauserfahrung Panychs mit einer Sterbenden und überforderten Ehrenamtlichen entstanden. Mehr als der deutsche Titel lässt der Originaltitel „Vigil“ erahnen, welches Spektrum das Stück umfasst: von der Sterbewache über eine Phase akribischer Beobachtung bis hin zu einer quasi liturgischen Zeit der Besinnung, des In-sich-Gehens. Panych ist dabei etwas Wunderbares gelungen: eine herrlich schwarze Komödie über Alter und Einsamkeit, Leben und Tod, die gleichermaßen amüsiert wie berührt.

Es spielen: Elvira Köhler und Stefan Strasser

Inszenierung: Beate Lesser und Wolfgang Graczol

(Dauer: 2 1/2 Stunden; eine Pause)